Was seine Großmutter vor rund 70 Jahren begann, führt Thomas Wurzer mutig, kreativ und zielstrebig in neue Zeiten. In einer Hinterhofwerkstatt in Wien produziert er Hosenträger und Gürtel in feinster Handarbeit.
Nur ein schlichtes Messing­schild hängt an der Hausmauer vor dem Eingang zu der kleinen Manufaktur in der Wiener Alser Straße. „Karlinger Hosen­träger ­ und Gürtelerzeugung, Parterre, Tür Nr. 2“ steht da in schnörkellosen Buch­ staben. Von derlei Äußerlichkeiten sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Hier werden Dinge gefertigt, die selbst für die ganz große Bühne taugen. Nehmen wir etwa die jüngste Bestellung. Auftraggeber: die Bayerische Staatsoper. „Für ‚Lady Macbeth‘ braucht die Kostüm­ abteilung in München ein paar spezielle, unterschiedlich lange Modelle“, erzählt Thomas Wurzer, ein sportlicher Mann mit eleganten grauen Hosenträgern. SO DUFTET EINE MANUFAKTUR Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man den 35­Jährigen glatt für ein Herren­mode­ Model halten. Doch Thomas Wurzer ist seit acht Jahren der Chef des Betriebs. Und wie kein anderer verkörpert er prä­zise das, wofür die Manufaktur Karlinger steht: für moderne, aber traditionell her­ gestellte Produkte von höchster Qualität. Willkommen in der Werkstatt des letzten Hosenträger ­Schneiders von Wien! Allein der Geruch! Es duftet nach feinem Leder, Öl und Leim. Wohin der Blick auch fällt, überall schaut es nach Arbeit aus. Lau­ter Schachteln und Kisten, über den Stella­gen hängen fertige und halbfertige Hosen­träger, in den Regalen lagern Lederrollen in allerhand Farben und Bänder in vielen Mustern. Vollgeräumt bis zur Decke ist die Werkstatt. Auf den Tischen ringsherum stapeln sich Scheren, Lochzangen, ein alter Lederschlägel. „Lauter Dinge, die wir jeden Tag brauchen“, Sagt Thomas Wurzer lä­chelnd, während er ein fein gewebtes helles Leinenband von der Spule rollt. Riiihiiihtsch! So schnell, dass es einem beim Zuschauen schwindlig wird, zieht ge­genüber Näherin Nadire Morina ein kleines dreieckiges Lederstück, gestanzt aus einem

größeren Lederfleck, einmal um die Näh­maschinennadel. Und gleich noch einmal geht’s rund: Riihiiiiiitsch! Eine adrette beige Ziernaht säumt jetzt das spätere Rückenteil eines Hosenträgers. Sehr fesch. 30 HANDGRIFFE FÜR EIN HOSENTRÄGERPAAR
Thomas Wurzer schneidet inzwischen am
langen Zuschneidetisch mit einer Textil­
schere ein naturfarbenes Band auf die rich­
tige Länge zu – und zwar mithilfe eines
Maßbands, das auf der Tischplatte ange­
klebt ist. Bei exakt 120 Zentimetern macht
es „Ratsch“. Einmal. Zweimal. Y
­förmig soll
das Hosenträgerpaar werden. Dafür muss
der Meister die beiden soeben geschnitte­
nen Stränge anschrägen, also gegenverkehrt
aneinanderlegen und spitz zuschneiden.
Diese Enden werden später hinter dem
vorher erwähnten dreieckigen Lederstück
verschwinden. Zusammen mit dem losen
Ende des dritten Bandes, das als Rücken Hosenträger dient. Und fertig ist die Y-Form.
Fehlen noch: Clips, Größenversteller, Metall-
ring und ein paar andere Lederteile. „Rund
30 Handgriffe“ seien nötig, bis ein Hosen-
träger hergestellt ist, schätzt Thomas Wur

zer. Gut Ding braucht eben Weile.
TRADITION IN DRITTER GENERATION
Genauso behutsam führt Thomas Wurzer
nun schon in dritter Generation fort, was
seine Großmutter vor 70 Jahren begann.
1947 war es, als Maria Wurzer in einem
Kellerlokal in der Wiener Neustiftgasse ein
kleines Geschäft eröffnete: Die tüchtige
Frau stellte Kleinteile aus Leder her – von
den Resten, die bei der Schuhproduktion
des Wiener Traditionsschusters Ludwig
Reiter anfielen. Damit belieferte sie unter
anderem die Gürtel- und Hosenträgerpro-
duktion der Lederwerkstatt Karlinger. Als
deren Inhaber in Pension gingen, trat sie
die Nachfolge an.
„Meine Oma war eine tolle Frau“,
schwärmt der Enkel. „Zu einer Zeit, als das
alles andere als selbstverständlich war, hat
sie ein Geschäft gegründet und ihr eigenes
Geld verdient“, meint er. Bis ins hohe Alter
sei Maria Wurzer neugierig geblieben und
an allen Dingen dieser Welt interessiert ge-
wesen. Vor allem natürlich daran, was sich
in „ihrer“ Werkstatt Neues tut.
Viel war das nicht, denn dort ist irgend-
wie die Zeit stehengeblieben. Thomas’
Vater Peter, der das Unternehmen Ende der
1960er-Jahre übernahm, meint gar, es sei
eine Art „Familientradition, sich von alten
Sachen nicht trennen zu können“.
Was für ein Glück! Denn zweifellos sind
es die angejahrten Apparate wie die mons-
tröse Deckelschere (zum Schneiden von Le-
der) oder die 70 Jahre alte, gravitätisch in
der Ecke thronende Spindelpresse (zur Her

stellung von runden Lederschlaufen), die hier nach wie vor ihre Dienste tun und
der Manufaktur eine unnachahmliche Atmo-
sphäre verleihen.
„Das muss man sich einmal vorstellen:
Die Presse ist noch täglich im Einsatz“, sagt
der heute 68-jährige Peter Wurzer stolz.
Seit Sohn Thomas den Laden 2008 über

nommen hat, ist der Seniorchef nur mehr
gelegentlich im Betrieb anzutreffen. Zum
Beispiel dann, wenn eine der alten Maschi-
nen streikt; da macht ihm keiner etwas vor!
„Manchmal zieht er nur eine kleine Schrau-
be an, und schon rennt das Ding wieder“, ist
Junior Thomas begeistert.
VON WEGEN VON GESTERN
Er selbst ist dem Familienunternehmen mit
aller Leidenschaft zugetan, seit er während
seines Betriebswirtschaftsstudiums erstmals
ernsthaft mitgearbeitet hat. „Ich hab mir
schon damals gedacht, dass wir hier Produk-
te machen, die Charakter haben“, erinnert
er sich. „Also Sachen, auf die man stolz sein
kann.“ Dennoch erntet Thomas Wurzer oft
merkwürdige Reaktionen zwischen Erstau-
nen und Unverständnis, wenn er etwa auf
Messen erzählt, wie seine Firma arbeitet:
Offensichtlich verblüfft die Vorstellung, dass
jemand heutzutage noch Hosenträger von
Hand herstellt.
Manchmal ärgert ihn das, weil es so rüber-
kommt, als wäre sein Handwerk komplett
von gestern; als wäre da jemand in Öster

reich hoffnungslos zurückgeblieben und
hätte in den letzten Jahrzehnten sämtliche
Trends verschlafen.
Dabei ist es genau andersrum: Nachdem
die feinen Hosenhalter eine Zeitlang haupt-
sächlich für ältere Herren mit imposanten
Leibesumfängen ein Thema waren, erleben
sie jetzt – speziell bei jungen Männern im
urbanen Raum – als modisches Accessoire
eine regelrechte Renaissance.
„Wir hatten allein im vergangenen Jahr
25 Prozent mehr Aufträge als noch im Jahr
davor“, freut sich Thomas Wurzer. Bis zu
2.000 Stück stellt er im Augenblick pro Mo-
nat her. Auch der Chef trägt übrigens gern
Hosenträger. Am liebsten schmale Modelle,
in gedeckten Farben. Ob mit Lederschlaufen
und Knöpfen oder mit Clips, das sei ihm
egal, sagt er.
MIT CLIPS ODER ZUM ANKNÖPFEN
Dabei sind Karlinger-Clips inzwischen zum
echten Markenzeichen geworden. Warum?
„Sie sind doppelt so breit wie üblich, extrem
belastbar und wurden speziell für uns ent-
wickelt“, erklärt Thomas Wurzer stolz. Er
zeigt uns einen dieser Superclips, auf dem
vorn ein großes, markantes „K“ prangt. „K“
wie Karlinger.
Und wie sieht der Hosenträger von heute
sonst aus? Eher klassisch, erklärt der Fach-
mann, „Streifen, Karos, Burlington- und
Paisley-Muster gehen immer“. Auch Leder

schlaufen zum Anknöpfen, einst als hoff-
nungslos altmodisch verpönt, sind jetzt
wieder der letzte Schrei.
Servus
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Die elastischen Bänder für die Hosenträ-
ger bezieht Thomas Wurzer aus einer Spe-
zial-Bandweberei in Belgien. Das Leder für
seine Produkte – die Firma Karlinger fertigt
auch hochwertige Gürtel – kommt in Rollen
von einem Hersteller in Oberösterreich.
„Dort werden die Farben noch von Hand an-
gerührt“, weiß der qualitätsbewusste Chef.
ZUKUNFTSMUSIK
Ob es derzeit Neuigkeiten gibt, die er seiner
Oma erzählen könne? Manchmal, sagt Tho-
mas Wurzer, liebäugelt er damit, neben der
Werkstatt auch ein kleines Geschäft oder
zumindest einen Schauraum zu eröffnen.
„Aber das ist noch völlig unausgegoren. Zu-
kunftsmusik.“ Der Segen der Oma dürfte
ihm dafür wohl sicher sein.